Fangberichte Das Meeräschen-Dilemma
Leute, das Angeln kann grausam sein. Heute der König der Pinnwand und Morgen der Idiot vom Hafenbecken. Es fing mit einem leichten Kribbeln an, breitete sich in der Magengegend aus, überbrückte kurzzeitig wichtige Schaltkreise unter meinem Großhirnrinde und führte schließlich zu zwei schlaflosen Nächten und den zittrigen Knien mit denen ich jetzt am Computer sitze. Mein Psychiater riet mir, meine Erlebnisse auf “Barschalarm” zu verarbeiten, sonst könnte das ernstere Folgen haben. Ich entschied mich daher einen kurzen Moment der Klarheit nutzen, um mit diesem Bericht den Therapieprozess einleiten, sonst laufe ich Amok.
Es begann letztes Wochenende auf einem Sonntagnachmittagsspaziergang am Hafen. Ich sah’ wie einige Touris an einer bestimmten Stelle immer wieder ins Wasser blickten. Kleine Kinder riefen aufgebracht:“ Fische,…. Mutti….. Fische”. Ich bildete mir ein, dass ich den Seglerhafen mit all dem, was in ihm herumschwimmt, kenne und erklärte meinem süddeutschen Besuch, dass es sich wahrscheinlich um die Fischbrut handele, die sich im Flachwasser des Hafenbeckens sonnt. Einen Angler können die Winzlinge freilich nicht aus der Wathose heben, nur diese Touris… Gut, jedem das seine.
Trotzdem stellten wir uns dazu. Als ich die Fischbrut sah’, traf mich augenblicklich der Schlag. Ich wankte ein wenig vor und dann zurück, hielt mich mit letzter Kraft am Poller fest und versuchte das Gleichgewicht zu finden. Das was da unten schwamm, sah keinesfalls wie Fischbrut, sondern eher wie ein Schwarm junger Schweinswale aus.
Riesige Fische gründelten in Gruppen und in aller Seelenruhe vor den Urlaubern im knietiefen Wasser. Von oben betrachtet ähnelten einer Gruppe Graskarpfen auf Nahrungssuche. Trotz meiner zusehends schwindenden Sinne konnte ich mich jedoch daran erinnern, dass Graskarpfen für gewöhnlich nicht im Salzwasser zu schwimmen pflegen. Und da der Eingang der Hafenanlage direkt an der Ostsee lag, konnten es nur irgendwelche Meeresfische sein. Das mit den Schweinswalen war natürlich eher unwahrscheinlich, …obwohl die Form… eigentlich… aber dann hätten sie ab und an mal an die Wasseroberflächen durchbrechen müssen, um eine Fontäne auszublasen. Dorsch schied auch aus, soviel war klar, – den kenn ich. Meerforelle auch. Was blieb übrig? Flundern waren es nicht – eindeutig nicht platt genug. Und Hornhechte auch nicht – nicht schnell genug.
Sekundenbruchteile später schoss es mir ein. Theorieunterricht Angelschein, 2. Stunde. Diese mysteriösen Fische, wo der Angellehrer plötzlich so ein Leuchten in den Augen hatte, als er das Dia reinschob. Und als er es gleich darauf wieder rauszog, brummelte er irgendwas von “Meeräschen”, und dass sie offiziell als “unfangbar” gelten. So ein Leuchten in den Augen und dabei nur so ein auffallend kurzer Kommentar zum Fisch. Damit musste es etwas auf sich haben, dass hatte ich damals schon instinktiv gerochen. Gleich in der Pause, während sich die anderen über Kutterausfahrten und Heringsangeln unterhielten, sprach ich den Angellehrer an:
– “Du sag mal, diese Meer…äh…äh…”.
– “Meeräsche.”, fiel er mir ins Wort.
– “Ja genau.”
– “Schmink die Dir ab, die sind unfangbar…, obwohl es da natürlich Mittel und Wege gibt…”
Ein vieldeutiges Grinsen umspielte seine Lippen. Mein Angellehrer saugte die Abendluft durch seine Zigarette und blickte lächelnd zu Boden, wohl wissend, dass er sich gerade verplappert hatte. Ich witterte Morgenluft.
– “Du meinst, du hättest die Meeräsche selber schon gefangen?”.
– “Ja, seit ungefähr 2 Jahren fange ich jeden Sommer ein paar, dass ist auch gar kein Geheimnis, das steht dann auch in der Zeitung und so…”
– “Und wie….?”
Er blickte mir tief in die Augen und lächelte. Ich spürte, dass ich an die Grenze dessen gestoßen war, was mir dieser Angellehrer an diesem Abend erzählen würde. Er war von der Sorte Mensch, die nicht mehr Worte machen als nötig. Und das war gut so, war er mir doch aufgrund dieser Eigenschaft vom ersten Augenblick an grundsemphatisch gewesen. Doch jetzt, wo er mich so schweigend anstarrte und meine unbeholfene Frage einsam in der Abendluft hing, hoffte ich, dass er nur noch ein einziges Wort über diesen mysteriösen Fisch verlieren würde. Wir sahen uns eine volle Minute lang an und wussten, dass der eine wusste, dass der andere nichts mehr sagen würde… Mein Angellehrer lächelte, nahm seine Zigarette, warf sie zu Boden, trat sie aus, und steckte sich eine neue an.
– “Also gut. Aber eines vorweg. Ich habe Jahre gebraucht, um diesen Fisch einigermaßen beangeln zu können. Und richtig zufrieden bin ich mit dem Ergebnis heute noch nicht. Du verstehst, dass ich Dir keine Details…”
– “….ja, ja, …voll und ganz”.
– “Ich kann Dir sagen, ich habe wirklich alles ausprobiert. Ich habe den besten Teig angerührt, habe Mais reingemacht, … Pfeffer… Muskat… hat alles nichts gebracht. Die haben es einfach ignoriert. Ich bin extra los und hab’ mir Muscheln gekauft und hab’ die durch die Mulinex gejagt, um dann irgendeinen Teig draus zu machen… Ich dachte, wenn die ihr Futter am Meeresgrund suchen, dann müssten die doch wenigsten Muscheln… doch Nichts. Ich wusste nicht mehr ein noch aus, bis….”
– ”Bis was?”
– “Ich will nicht behaupten, dass ich jetzt den Köder gefunden hätte, aber immerhin fange ich meine Fische. Einfach ist es dennoch nicht. Der Vorteil bei den Meeräschen ist, dass du sie beobachten kannst. Wenn sie im Hafenbecken umherziehen, hast du keine Chance. Du musst sie abpassen, wenn sie gerade am Äsen sind. Dort musst du den Köder direkt platzieren. Wenn der Köder die Wasseroberfläche berührt, dass heißt, eigentlich schon in dem Moment wo du mit der Angel auf dem Steg auftauchst, sind die Meeräschen erstmal verschwunden. Sie sind sehr scheu,… weißt du!! Aber sie kommen wieder. Und dann… Schöner Drill, dass kann ich Dir sagen.”
– “Hakengröße???????????”
– “Nur das Feinste vom Feinen. Ich selber nehme Karpfenhaken.”
– “Anfangsbuchstabe vom Ködergrundstoff…?”
– “Die Angelstunde geht weiter !!!”
Mein Angellehrer schmiss seine Zigarette auf den Boden, lächelte mich an und wir gingen wieder rein. Ich wundere mich, dass mir diese Szene nach all den Jahren noch so eindrücklich und detailliert in Erinnerung geblieben ist. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich mich damals schon fragte, wie jemand fähig ist, zu Hause Muscheln durch die Mulinex zu jagen.
Montagmorgen eine weitere Station auf dem Weg in meinen persönlichen Wahnsinn. Ich stehe vor dem Fischgeschäft und verlange ein Kilo Muscheln. Zu Hause angekommen zerhacke ich sie fein säuberlich auf dem Küchentisch. Meine Freundin blickt mich mit fragenden Augen an. Dabei sollte sie eigentlich froh sein, dass ich den Mixer verschont habe.
Ich bildete mir bisher ein, meine Sucht ganz gut unter Kontrolle zu haben. Ich wusste, dass die heftigsten Schübe für gewöhnlich im Herbst und im Frühjahr kommen. Damit konnten wir beide leben – damit hatten wir gelernt umzugehen. Für diese Zeit hatte ich mir auch einen Stapel Ausreden zurecht gelegt, die allesamt darauf aufbauten, dass ich im Sommer doch weitestgehend abstinent leben würde. Meine Freundin, die solche Sachen komischerweise nie vergisst, sagte dann auch prompt: ”Ich dachte im Sommer gehst du nicht angeln…”
Ich entgegnete in geduckter Haltung und den Bombeneinschlag erwartend: “Ja ich weiß Schatz,… aber mal ehrlich, kann man das einen Sommer nennen?”
Mit zwei Ruten und dem bisschen Friedfischzeug bewaffnet, was ich in meiner Angelkiste gefunden hatte, mache ich mich auf dem Weg zum Angelladen. Was ich brauchte, waren eine Packung Karpfenhaken und ein entscheidender Tipp. Es war halb zehn. Der Typ vom Angelladen ist noch nicht sonderlich beschäftigt. Ich entschloss mich zu einer brutalen Eröffnung… Vielleicht rutscht ihm was raus, dachte ich, wenn ich ihn am Morgen gleich auf dem falschen Bein erwische.
Er: “Guten Morgen.”
Ich: “Was ist der ultimative Köder für Meeräschen.”
Er: “Das ist die große Frage. Selbst der Angellehrer (er nennt natürlich den Namen, den bei uns jeder Heringsangler kennt) will ja mit seinem Rezept nicht rausrücken.”
Verdammt, denke ich, der weiß es auch nicht. Oder er weiß es und will es mir nicht sagen, der Schuft. Ich merkte wie ich langsam durchdrehte. Hatte der Typ da hinter dem Tresen, nicht gerade so verdächtig geblinzelt, oder bildete ich mir das nur ein?
Ich bin im Nachhinein immer noch stolz darauf, dass ich den Verkäufer nicht kurzerhand über den Tresen zog, um ihm das Geheimnis mittels eines Filettiermessers abzupressen. Dabei hätte ich später doch mit gutem Grund auf “Schuldunfähig” oder “Notstand” plädieren können.
Ich widerstand der Versuchung jedoch und nahm mit der Selbstbeherrschung eines tibetischen Mönches die Karpfenhaken vom Tresen und verabschiede mich höfflich. Beim Hinausgehen sah ich aus dem Augenwinkel den Angellehrer an der Pinnwand hängen, wie er eine riesige Meeräsche in der Hand hält. Die Bestenliste wird dieses Jahr von einer Meeräsche von 63 cm angeführt. “Nur 63cm”, dachte ich; denn ich war mir sicher, dass jede zweite der Meeräschen, die ich unter dem Steg schwimmen gesehen hatte, über 70cm lang war.
Eine Stunde später war ich am Seglerhafen. Ein Bild wie gestern. Urlauber wo man hinsieht. Als sie mich sahen, kamen natürlich kleine versteckte Provokationen wie: “Na dann Petri Heil…”
Ich stichele zurück: “Petri Dank”. In Wirklichkeit war ich mir alles andere als sicher, ob dieser unfangbare Fisch, sich von mir heute fangen lies. Zumal der Angellehrer ja auch schon gesagt hat, dass Muscheln nicht funktionieren würden. Aber vielleicht, so hatte ich mir die ganze letzte Nacht überlegt, hat er das nur gesagt, damit ich denke, dass Muscheln nicht funktionieren würden. Muscheln schienen mir nämlich für gründelnde Fische keine so schlechte Wahl zu sein. Für den Notfall hatte ich auch noch ein bisschen Mais dabei.
Sie waren noch da!
Sogar noch zahlreicher als am Tag zuvor. An Besucher offensichtlich gewöhnt, grasten sie friedlich unter dem Steg des Seglerhafens. Kaum hatte ich jedoch die Rute zusammengesteckt, ergriff heillose Panik die Meeräschengruppe. Wasser spritzte, Flossen schossen durchs Wasser und Sekunden später war der Spuk vorbei. Genau wie der Angellehrer es gesagt hat, dachte ich. Eigentlich lief also alles nach Plan. Ich beködere die Karpfenhaken; hatte aber plötzlich starke Bedenken, dass diese kleinen Dinger in den gigantischen Mäulern Halt finden könnten. Ohne irgendein Gewicht lege ich den Teig dennoch inmitten der Seegraswiese ab und warte. 5 Minuten lang passiert erst mal nichts. Dafür höre ich, von der anderen Seite des Stegs ein Kind rufen. “Mutti…. ein Fisch ….Mutti”.
Dann kam ER. ER war eine Hilfsaufsichtsperson des Hafenbeckens. Hier sei das Angeln nicht gestattet, erklärte ER, und ich solle mich besser entfernen, sonst gebe das noch Ärger. Dass es nicht gleich Ärger gab, verdankte ich allein dem Umstand, dass ER ein Nachbar aus meiner Strasse war und wir uns ganz gut verstanden. Früher hat ER als Ingenieur in einem Projektierungsbüro in der Stadt gearbeitet und heute ist er Hilfsaufseher im Hafen – verrückte Zeiten sind das.
Ich fragte nach einer Ausnahmegenehmigung und nach “einem kleinen zugedrückten Auge…” an diesem wunderbaren Nachmittag… wo die Sonne so schön auf die guten alten Zeiten schien. Er sah dafür keinen Weg, weil er seinerseits Angst hatte, dass er vom Hafenmeister Ärger bekommen würde.
Die Fronten waren damit geklärt und ich hätte eigentlich einpacken können. Ich blieb trotzdem und beschloss, ihn ein wenig hinzuhalten. Ich frage ER, wie es zu Hause geht und was die Kinder machen,… Alles wertvolle Zeit, dachte ich, denn jeden Moment konnten die Meeräschen zurückkommen und sich über meinen Köder hermachen. Nur ein einziger Biss, sagte ich mir, und ich mache mich vom Acker,…versprochen!
ER hat keine Einsicht. Irgendwann ging mir der Stoff aus und als ich ER zum Dritten mal fragte, was die Kinder machen, ging er mit einer gutgemeinten Warnung von dannen. Ich weiß, dass ER Recht hatte. Und ich wollte ihn auch nicht in Schwierigkeiten bringen, jetzt wo ER einen Job hat. Aber ich blieb – ich konnte nicht anders.
Die Meeräschen waren unterdessen zurückgekehrt. Zufrieden mampften sie sich über die Seegraswiese. Irgendwo dort zwischen dem Kraut lag mein Teig. Jedesmal wenn eine Meeräsche in die Nähe des Bereichs kam, wo ich meinen Haken vermutete, starrte ich mit zittrigen Händen auf meine Schnur. “Los” dachte ich, “Schießt los. Gleich kommt der Hafenmeister und ich hab’ nicht viel Zeit. Macht schon !!!”
Eine ganze Stunde später konnte man immer noch beobachten, wie ein erwachsener Mann leise vor sich hinmurmelnd am Hafenbecken stand und mit fiebrigen Augen ins Wasser starte. Eine Tortour war das! Ich konnte zusehen, wie sich meine Nerven auflösten, während diese Viecher träge über den Teig hinweggründelten, …immer und immer wieder. Sie fraßen alles – außer den Köder.
Ich grübelte, was man noch versuchen könnte. Im Internet hatte ich bei einer Recherche gefunden, dass die meisten Leute die Meeräsche mit schlichtem Weißbrot beangeln würden. Andere schlugen vor, etwas Mais oder Muscheln reinzukneten. Nach meiner Meinung sind damit die reinsten Nebelbomben im Internet gesetzt worden. Mit Weißbrot auf Meeräschen zu gehen macht meiner Meinung nach überhaupt keinen Sinn. Eher könnte man es mit Rollmops oder Räucheraal auf Meerforelle versuchen. Die Sache mit dem Köder ist sehr viel komplizierter.
Jetzt könnte man natürlich einwenden, dass Leute die Sache mit dem Weißbrot sicherlich nicht umsonst in das Internet geschrieben haben. Und ich sage euch: Haben sie auch nicht !!!
Ich glaube nämlich, dass hinter der Frage des Meeräschenköders in Wahrheit eine internationale Verschwörung steckt. Das muss so eine Arte Geheimbund oder Kartell sein. Ich vermute weiter, dass sich dieser Bund im Frühjahr, wenn alle Welt dem Hering hinterher jagt, in den verqualmten Hinterzimmern der Anglerheime trifft und dort die Taktik für das nächste Jahr bespricht. Das Köderrezept für Meeräsche wird dann aus einem Panzerschrank geholt und feierlich verlesen. Danach wird an einer Legende gestrickt, mit der man im Internet und in Fachbüchern im nächsten Jahr die Allgemeinheit auf die falsche Fährte locken wird. Wahrscheinlich sind ER, der Hafenmeister, der Verkäufer im Angelladen und allen voran mein Angellehrer Teil dieser Verschwörung.
Ich leiste mit diesem Artikel also einen ersten überfälligen Beitrag zur Aufdeckung. Und ich verkünde hiermit als Ergebnis meines stundenlangen Selbstversuchs feierlich:
“Mais, Muscheln und Weißbrot, sind keine geeigneten Meeräschenköder !!! AMEN.”
Doch was ist es dann? Ich saß auf dem Steg und zermaterte mir den Kopf. Immer ein Auge auf meinen Köder und ein Auge auf den Steg von dem der Hafenmeister jeden Moment kommen musste. Irgendwann sah ich in der Ferne einen Mann in Kapitänskleidung den Steg betreten. In einem Seglerhafen an der Ostsee ist mit einem Mann in Kapitänskluft durchaus zu rechnen, ohne dass es unbedingt der Hafenmeister sein muss. Meine Nerven waren zu diesem Zeitpunkt jedoch allesamt durch die Sanduhr gerieselt und ich hatte einfach nicht mehr den Mumm, es darauf ankommen zu lassen. Ohne darüber nachzudenken, packte ich meine Angeln und machte mich unversehens aus dem Staub.
Das Geheimnis der Meeräschen habe ich damit natürlich immer noch nicht gelöst. Auf dem Rückweg traf ich überdurchschnittlich viele “Urlauber” die mich fragten: “Na, was gefangen?”
Ich antwortete nicht, sondern setzte meinen Weg fort, war ich mir doch sicher, dass sie alle Teil der Verschwörung waren. ALLE !!!
Ich dachte an meinen Angellehrer. Was war sein Rezept? Speer, Kleinkaliber oder Handgranate? Ich weiß es nicht. Was immer es ist. Angellehrer. Wenn du diese Zeilen hier liest.
BITTE MELDE DICH!!!!!
Ich halte es nicht mehr aus.